Ich
saß in der S-Bahn. Auf dem Weg zu meiner Therapeutin. Die Ärmel weit über meine
Handgelenke gezogen. Niemand, keine Menschenseele, sollte den dicken, weißen
Verband sehen. Meine schwarz lackierten Fingernägel waren das Einzige, was noch
hervorschaute.
Berliner Straße.
Ich
stand auf. Sah mich misstrauisch um. Die Leute schienen mit sich selbst
beschäftigt zu sein. Ein junges Mädchen schrieb eine SMS. Ein Mann in Anzug las
ein Buch mit dem Titel „Sterben. Das Leben danach“.
Ich
musste grinsen. Denn ich glaubte ebenso wenig an ein Leben nach dem Tod wie
mein Vater daran glaubte dass ich etwas richtig machen konnte.
Ich
stieg aus, lief den Bahnsteig entlang. Vorbei an Obdachlosen, die mir bettelnd
einen Pappbecher hinhielten. Vorbei an
spiegelnden Reklametafeln. Vorbei an mir selbst.
Ich
senkte meinen Blick. Lief so leise wie es nur möglich war die Treppenstufen
hinauf. Stellte meinen iPod aus und lief die Straße entlang zur Hausnummer 70.
Nach einem kurzen Zögern drückte ich auf die Klingel. Das Summen ertönte, ich
öffnete die Tür und betrat die Praxis.
Die
Luft war stickig. Das Lächeln meiner Therapeutin falsch. Ihre auf mich
zukommenden Schritte zu groß. Mir wurde unbehaglich.
„Ah,
guten Tag, Lexy.“ Sie hielt mir mit einer einladenen Geste die Tür zum
Therapiezimmer auf. „Ist Ihnen kalt? Sie sehen so erfroren aus.“
„Nein,
alles bestens.“ Von wegen alles bestens,
du Lügnerin.
Ich
zog meinen Stoffmantel aus, wickelte den Schal ab und zerrte den Cardigan bis über meinen Daumen.
„Was
verstecken Sie vor mir?“
Ich
sah auf, versuchte verwirrt auszusehen. „Nichts.“
Meine
Therapeutin griff mit scharfem Blick nach meinem Arm, den ich ihr mit aller
Kraft entziehen wollte. Als sie den Stoff wegschob und der Verband zum
Vorschein kam, fing ich leise an zu weinen.
„Das
sieht mir aber nicht nach ‚nichts‘ aus.“
„Es
tut mir leid“, presste ich hervor ehe ich erneut von
Schluchzern
geschüttelt wurde.
„Darf
ich mal sehen?“ Sie entfernte die Mullbinde, nahm die blutdurchtränkten
Kompressen weg und zog die Luft durch die Zähne ein als sie die genähte Wunde
erblickte. „Lexy.“
Ich
reagierte nicht.
„Lexy,
schauen Sie mich bitte an.“
Ich
tat, wie mir befohlen wurde.
„Wann
ist das passiert?“
„Gestern“,
rückte ich heraus.
„Zuhause?“
Ich
schüttelte den Kopf. „Während einer Vorlesung.“
„Vor
den Augen der anderen?“
Mehr oder weniger.
„Haben
Sie das getan, um Aufmerksamkeit zu bekommen?“
„Nein.
Um Himmels willen, nein!“
„Aber
warum dann inmitten der Vorlesung?“
„Weil
ich verdammt nochmal keine Kraft mehr hatte mich auf die Toilette zu schleppen.“
„War
es Ihnen egal, dass Sie nicht alleine waren?“
„Es hat mich nicht gestört. Nichts hat mich gestört. Es war
als wäre ich in einer Seifenblase. Ich
habe nichts mehr wahrgenommen, außer der kalten Klinge in meiner rechten
Hand." Aus einem Augenwinkel heraus erkannte
ich dass sie etwas notierte, das wage aussah wie keine Wahrnehmung der Umwelt.
Eine
bleierne Schwere legte sich über mich als mich ihre nächste Frage mitten ins
Herz traf:
„Haben
Ihre Eltern Ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt?“
Oh doch, das haben sie. Und zwar in Form von Schlägen,
Vorwürfen und Beschimpfungen.