„Du gibst mir jetzt deine Rasierklingen“, sagte er und zog mich hoch. „Alle. Jede einzelne.“
Ich
wand mich unter seinem eisernen Griff. Vergeblich. Mit
weitaufgerissenen Augen stand ich vor ihm und reichte ihm die blutige
Klinge, die ich heute in meinen Arm gerammt hatte.
Ihm entfuhr ein langezogenes Aufstöhnen. „Und die anderen?“
Ich schüttelte vehement den Kopf und suchte nach einem Weg nicht ganz so schuldbewusst auszusehen.
„Du sagst mir jetzt, wo du die anderen versteckt hast.“
In
mir tobte ein Feuer. Ich wollte kämpfen, aber gleichzeitig konnte ich
mir nicht vorstellen, ohne meine kleinen, spitzen, silbernen Helfer
auszukommen.
Ach scheiße, dachte ich mir und rannte ins
Schlafzimmer. Tränenüberströmt gab ich ihm meine letzten Klingen. Alle
noch unbenutzt und verpackt mit dem Namen von Willkinson drauf.
„Ich
bin stolz auf dich, meine Süße“, flüsterte Andrew und drückte mir einen
Kuss auf den Mund. Ich fuhr erschrocken zurück, stolperte dabei über
meine eigenen Füße und fiel hin. Nackte Panik stieg in mir hoch als er
immer näher kam, sich über mich beugte und meine beiden Arme festhielt.
„Du bist meins.“
Meine
Angst wuchs ins Unermessliche. Wie außer mir fing ich an mit den Beinen
zu strampeln, was ihn allerdings wenig beeindruckte. Er strich über
meine Brüste.
Und dann endlich konnte ich schreien. Es war ein ohrendbetäubender, fast animalischer Schrei.
Ich
musste blinzeln und verstand die Welt nicht mehr als ich bemerkte, dass
ich alleine im Schlafzimmer lag, die Rasierklingen wild um mich
verteilt. Was bedeutete, ich hatte mir das alles nur eingebildet. Alles.
Jedes noch so kleine Detail.
Ich rappelte mich auf und strich meine Haare zurück während ich hörte wie Andrew nach mir rief.
Ich
wusste nicht, wie lange ich dagelegen und mir eingebildet hatte, er
verginge sich an mir. Mit einem Kopfschütteln bückte ich mich,
versteckte eine Rasierklinge unter meinem Kissen und schmiss die
restlichen in den Mülleimer.
Andrew rauschte ins Schlafzimmer. Sah mich mit einem sehnsüchtigen Blick
auf die Klingen starren. Legte mir eine Hand auf den Rücken.
Schweren Herzens wandte ich mich ab. „Du hälst mich bestimmt für total gestört, aber es fällt mir schwer. So verdammt schwer.“
„Ich weiß, Lexy. Ich weiß.“ Er zog mich an sich und hielt mich fest. Ganz fest an sich gepresst.
Ich fühlte mich schwach, so als würden meine Beine mich nicht mehr halten können.
"Puts on her best smile, but underneath she's a broken girl."
Samstag, 29. Dezember 2012
Montag, 12. November 2012
Flocki
Ein
Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt. Ich hörte die schweren Schritte meines
Vaters, wie er etwas auf den Boden krachen ließ und dann ein schmerzerfülltes
Miauen.
Ich
ignorierte die Angst, die mir die Kehle zuschnürte und meine Beine lähmte. Ich
musste Flocki retten. Das hatte Priorität, ich stand an zweiter Stelle. Leise
drückte ich die Türklinke hinunter und schlich auf Zehenspitzen nach vorne in
den Flur.
Wie kann er nur. Oh
mein Gott, Flocki.
Auf
ihrem Schwanz stand ein Einkaufsbeutel.
„Alles
okay? Geht’s dir gut?“
„Dieses
Drecksvieh ist nicht aus dem Weg gegangen“, erklärte mein Vater und trat
Flocki, wie um zu zeigen, dass er das Sagen hatte.
Verdammt, sie ist eine Katze. Eine Katze ist ein
Lebewesen. Und Lebewesen haben Gefühle. Auf denen du allerdings nur
herumtrampelst.
„Zu
nichts zu gebrauchen. Genauso wie du“, schimpfte er weiter.
Ich
ging zu ihr, schmiss den Beutel meinem Vater vor die Füße und verschwand mit
ihr auf dem Arm in meinem Zimmer, wo ich sie ins Puppenbett legte und zudeckte.
„Es
tut mir leid. Ich werde nächstes Mal besser auf dich aufpassen, okay?“
Ich
schaute in ihre leuchtend grünen Augen, aus denen jeglicher Glanz verschwunden
war. Ich fuhr durch ich weiches, schneeweißes Fell. Zu oft wurde sie als
Fußabtreter missbraucht. Ich fing an ihr etwas vorzulesen. Sie sollte eintauchen in eine Welt voller Feen,
Magie und Zauber und die schreckliche Wirklichkeit ganz weit von sich schieben.
Ich
nahm etwas Glitzer und streute es über sie. „Ab heute sind du und ich Freunde für immer und ewig.“
Ich
legte meine kleine Hand auf Flockis Kopf und flüsterte ihr zu: „Keine Angst. Du
schläfst heute bei mir.“ Ich nahm sie und setzte sie auf mein Bett ehe ich die
Lichterkette anschaltete und ein rosafarbener Glanz mein Zimmer erfüllte. Ich
zog die Bettdecke über uns beide und versuchte verzweifelt Schlaf zu finden.
Ich wälzte mich hin und her. Stundenlang. Erst als ich Flocki vorsichtig an
mich drückte, und mein Herz unter ihrem warmen Körper pulsierte,
Flocki. Stumm
bewegte ich meine Lippen. Ihr Name trieb mir Tränen in die Augen. Erinnerte
mich an all die vertrauten Stunden, die wir zusammen verbracht haben.
Verbarrikadiert in meinem Zimmer.
Still
sank ich zurück in die Kissen. Neben mir hörte ich Andrews regelmäßige
Atemzüge, was hieß, dass er tief und fest schlief. Im Gegensatz zu mir. Ich war
hellwach, verspürte nicht den Hauch von Müdigkeit. So leise wie möglich schlug
ich die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Ich lief zum Fenster, schob den
Vorhang ein Stück zur Seite. Es sah schön aus, dort draußen. Friedlich. Die
Rücklichter der Autos. Der mit Sternen erhellte Himmel. Die Laternen mit dem
hellgelben Licht. Alles ging seinen gewohnten Gang.
Ich
kroch zurück ins Bett, rollte mich zu einer Kugel zusammen. Und hatte auf eine
eigenartige Art und Weise das Gefühl beobachtet zu werden.
Donnerstag, 8. November 2012
Live or die?
Mit
einem ekelerregenden Klang prallte mein lebloser Körper unten auf. Den Kopf
nach links gedreht starrten die offenen Augen vor sich hin. Mein Bein lag
seltsam verdreht auf dem Asphalt während das Blut weiterhin aus den Schnitten
an den Pulsadern strömte und den Gehweg in einen Tatort verwandelte.
„Oh
mein Gott!“, hörte ich jemanden schreien. Eine warme Hand legte sich um mein
Handgelenk und fühlte meinen Puls. „Ich kann nichts spüren.“ Sie drückte
stärker. „Nichts.“ Mein Arm wurde in seine ursprüngliche Postion zurückgelegt. Und
als sich die Person mir zuwandte erkannte ich dass es Andrew war. Sein Gesicht
war tränenüberströmt, seine Hose voller Blut. Er legte meinen Kopf in seinen
Schoß. „Wach auf. Bitte Lexy. Tu es für mich.“ Ich blinzelte kurz, rührte mich
aber nicht. „Bitte tu, was ich dir sage. Nur dieses eine Mal.“
Ich
überwand mich. Schreiend wachte ich auf. Ein tiefes, sattes Schwarz um mich
herum. Wie in einem Sarg. Einem Sarg? Mir
blieb die Luft weg.
„Du
hattest einen Albtraum. Es ist alles gut. Ich bin bei dir.“
Ich…lebe?
Ich
kann nicht in Worte fassen wie ich mich fühlte. Es war als würde der Boden
unter mir weggerissen werden. Ich fiel. Tiefer und tiefer.
Ich lebe,
sagte ich mir. Neben mir sitzt Andrew und
hält meine Hand. Es ist drei Uhr nachts. Und alles, was bis eben so real war,
war nur ein Traum.
„Lexy.
Sieh mich an.“ Er fasste unter mein Kinn, drehte es grob zu sich.
„Du
tust mir weh.“
Samstag, 20. Oktober 2012
Weg, verschwunden
Ich
lehnte mich zurück, umklammerte mit meinen Händen die Tischkante und schloss
meine Augen.
„Was
sehen Sie?“, fragte meine Therapeutin
„Einen
Himmel.“
„Gibt
es Wolken?“
„Ja,
ziemlich viele. Lilafarbene, flauschige Wolken, die beinahe den ganzen Himmel
bedecken.“
„Und
jetzt stellen Sie sich vor, Sie würden dort sein, hoch oben und auf die Welt
hinuntergucken. Was sehen Sie?“
„Ich
sehe Andrew er streckt die Hand nach mir aus. Aber er greift durch mich
hindurch.“
„Interessant.“
Ich hörte wie sie sich etwas notierte, und noch während sie schrieb stellte sie
mir eine weitere Frage. „Wie fühlen Sie sich dort alleine im Himmel?“
„Komischerweise
fühle ich nichts. Als wäre ich tot.“
„Mhm.
Jetzt öffnen Sie ihre Augen.“
Ich
tat wie mir befohlen wurde.
„Denken
Sie manchmal darüber nach, Suizid zu begehen?“
„Ja.“
„Und
wie fühlen Sie sich in diesem Augenblick?“
„Irgendwie
erleichtert. Als könnte ich alles hinter mir lassen.“
„Ist
diese Vorstellung verlockend?“
Ich
spürte wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. „Ja.“
„Haben
Sie konkrete Pläne wie Sie sich umbringen wollen?“
„Nein,
habe ich nicht.“
„Würden Sie es mir sagen, wenn Sie vorhaben sich selbst zu ermorden?“
„Ehrlich gesagt…weiß ich es nicht.“
„Versprechen Sie mir, dass Sie sich bis wir uns wiedersehen nicht
suizidieren.“
Ich senkte den Kof, schaute auf meine Oberschenkel und dann kam es über
meine Lippen. „Ich versuche es, aber versprechen kann ich nichts.“
„Wie geht es Ihnen jetzt?“
„Nicht so besonders gut.“
Sie richtete sich auf, was ich als Zeichen nahm, dass die Stunde vorüber
war. Ich stand schon an der Tür als sie plötzlich meine Hand nahm und sie fest
drückte. „Ich glaube an Sie.“
Wenigstens einer. Ich drückte die Klinke nach unten und
schob mich vorsichtig aus dem Therapieraum.
Ich spürte wie das Blut durch meine Adern rauschte. Wie Raketen auf dem
Weg in den Himmel, wo sie sich entzündeten und ein wunderschönes Feuerwerk den
Himmel erleuchtete.
Als ich die Praxis verlassen hatte fühlte ich mich einer Explosion nahe.
All die unterdrückten Empfindungen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche. Aggression,
Hass und Trauer- eine giftige Mischung.
Ich wankte durch die Straßen bis ich schließlich vor einem Friedhof zum
Stehen kam und lauthals anfing zu lachen. Minutenlang starrte ich auf das
schmiedeeiserne Tor, welches den Eingang zum Reich der Toten bildete, und lachte.
Wie ein kleines Mädchen, was sich nicht anders zu helfen weiß. Als mein Körper
genug hatte und mich keuchen ließ, sank ich auf die Knie und hockte da als
würde ich den Friedhof anbeten.
Also stand ich schnell wieder auf. Die innere Anspannung war weg,
verschwunden.
Samstag, 13. Oktober 2012
Lexy, die Ritzerin.
Meinen
iPod in den Ohren stürmte ich in den Vorlesungssaal.
I’m so happy cause today I found my friends. They’re in my head.
Ich
verschwand in der hintersten Reihe, dort wo ich ungestört meinen Gedanken
nachhängen konnte ohne zu riskieren aufgerufen zu werden.
I’m so ugly. That‘s okay cause so are you.
Ich
klatschte meine Sachen auf den Tisch und schaltete die Musik aus. Um mich herum
herrschte eine eigenartige Stille. Das übliche Flüstern war verstummt, niemand
gab einen Laut von sich. Mein eigenes Atmen war das einzige Geräusch, das ich
hörte. Ich setzte mich, ließ meinen Blick durch den Saal schweifen. Da
entdeckte ich es. Lexy, die Ritzerin.
Drei allesvernichtende Worte, in Kreide an der Tafel.
Ich
sprang auf und stürmte zum Ausgang. Weg. Nur weg von hier. Ganz weit weg.
„Lexy,
was ist denn los?“ Fast wäre ich in meine Professorin hineingerannt. Doch sie
nahm meinen Arm, zog mich hinaus in den Flur und schaute in mein aufgelöstes
Gesicht. „Was ist passiert?“
Traurig
und wütend zugleich senkte ich den Kopf.
„Bitte
reden Sie mit mir.“
„Gehen
Sie doch rein und schauen selbst!“
Sie
war verwundert, befolgte dann aber meinen Rat. Ich rutschte an der Wand entlang
auf den Boden, fing an zu weinen. Meine Lust zu leben kroch am Boden herum. Ich
wollte nur noch tot sein. Mausetot.
„Hey.“
Meine Professorin hockte sich neben mich. „Nehmen Sie sich das nicht so zu
Herzen.“
„Ich
kann nicht anders. Wenn ich weg wäre, dann wäre alles besser.“
„Sie
gehen jetzt am besten nach Hause.“
„Das
geht nicht. Ich werde dort gar nicht erst ankommen.“
„Okay.
Dann bringe ich Sie.“
„Nein.
Das ist nicht nötig.“ Ich versuchte aufzustehen. Leider erfolglos. Wie alles in
meinem verfickten Leben. Kraftverlassen saß ich im Gang der Uni und heulte mir
die Augen aus.
„Kannst
du mir mal helfen?“, hörte ich die Stimme von Frau Ebert fragen und wunderte
mich, mit wem sie sprach. Mit mir sicherlich nicht.
„Was
ist denn mit ihr passiert?“ Herr Maaßen.
„Sie
ist vollkommen aufgelöst, weil an der Tafel steht, dass sie sich ritzt.“
Ich
hielt den Atem an.
„Lexy
ritzt sich?“ Er klang entsetzt. „Scheiße.“
Scheiße?
Dann
folgte: „Geh du ruhig rein, ich kümmere mich um sie.“ Er setzte sich zu mir.
Ich
rutschte von ihm weg. „Sie müssen nicht wegen mir-“ Ich verstummte als er
meinen linken Arm nahm und den Ärmel hochschob.
Er
fuhr sanft über die frischen Schnitte. „Lexy, was ist passiert, dass Sie sich
solche Verletzungen zufügen?“
Das geht Sie einen Scheißdreck an.
„Das
ist doch keine Lösung.“
Ernsthaft. Lassen Sie mich in Frieden.
„Sind
Sie in Behandlung wegen der Borderline-Störung?“
Ich
kochte vor Wut, innerlich und äußerlich. „Ich habe kein Borderline. Ich bin
depressiv“, warf ich ihm vor die Füße und suchte nach einer Ausrede um seiner
Neugier zu entfliehen. „Mir ist schlecht.“
„Soll
ich Sie nach draußen bringen?“
Tun Sie sich
keinen Zwang an.
Ohne
zu protestieren ließ ich es zu dass mir hoch half. Seine helfenden Hände, mein leerer Blick, die Unsicherheit
in mir. Mir wurde schwindlig. Schwindlig vom Denken, vom Leben. Mit unsicheren
Schritten floh ich aus der Uni als mir ein Satz hinterhereilte und mein Herz entzwei
riss.
„Es
tut mir leid, was ich damals zu Ihnen gesagt habe.“
Ich
drehte mich um. „Sie hatten doch Recht. Ich bin eine Versagerin.“
Draußen
war es kalt, bitterkalt. Ich wusste nicht wohin ich jetzt gehen sollte. Andrew
war arbeiten, die Wohnung war leer und verlassen. Wie ich.
Selbst schuld, du unfähiges, kleines Ding.
Ich
drehte mich einmal um mich selbst, streckte meine Arme aus und sah in den
Himmel. Wie gerne wäre ich eine Elfe. Ich könnte einfach davonfliegen. Zwischen
den Wolken tanzen. Und von oben über die Menschen wachen.
Plötzlich
berührte mich jemand an der Schulter. Zu Tode erschrocken presste ich die Hände
auf mein rasendes Herz. Langsam, ganz
langsam, schaute ich nach hinten. Da war
niemand. Unauffällig blickte ich mich um. Ich war die Einzige in der gesamten
Straße. Mir wurde unheimlich zumute. Ich
fühlte mich verfolgt. Als lauerte jemand in seinem Versteck darauf, dass ich
einen Fehler machte.
Doch woher
sollte ich wissen, was richtig und was falsch war? Kalte Angst packte mich und
trieb mich dazu zur nächsten U-Bahn-Station zu rennen und mich dort in den
vollen Zug zu quetschen. Es waren vier Stationen bis zu Andrews Anwaltskanzlei,
die ich an eine Glasscheibe gepresst hinunterzählte.
Mit
Knien so weich wie Butter bahnte ich mir meinen Weg in die Freiheit, möglichst darum
bemüht kein Aufsehen zu erregen. Meine Handflächen waren schweißnass. Als ich
auf sein Bürogebäude zusteuerte fiel mir das Atmen immer schwerer. Wie ein
Fisch schnappte ich nach Luft.
Der
Pförtner kam hinter dem Thresen hervor. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Muss
zu…Andrew.“
„Was
ist denn los?“
„Ich…keine
Luft“, hauchte ich und brach unter seinen sensationslustigen Augen zusammen.
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