"Puts on her best smile, but underneath she's a broken girl."

Mittwoch, 12. März 2014

Erinnerung



Wir sitzen im Kreis. Ich habe die Beine übereinandergeschlagen, mich zusammengekrümmt und schaue zu Boden. Habe Angst aufzufallen. Will mich unsichtbar machen. Verschwinden. Mein Herz klopft wie verrückt. Ich atme flach und unregelmäßig, spüre wie mir Tränen in die Augen treten. Ich blinzele und verkrampfe meine Hände ineinander während mein Kunstlehrer redet. Ich weiß nicht worüber, alles, was ich weiß ist, dass mir seine Stimme Angst einjagt. Sie klingt so tief, laut und emotionslos.
Wir sollen uns reihum vorstellen. Ein Mädchen fängt an; ich beneide sie um ihre Unbeschwertheit mit der sie ihren Namen sagt. Je näher ich rücke, desto mehr Panik strömt durch meinen Körper. Als es dann soweit ist, setzt mein Herz einen Schlag aus. Mir bricht der Schweiß aus, Blut schießt in meine Wangen. Mir wird schwindlig. Mühsam bringe ich meinen Namen über die Lippen, leise und undeutlich.
„Habt ihr was verstanden? Ich nicht“, fährt mich der Lehrer an. Ich weiß genau, dass er meinen Namen kennt, er  unterrichtet mich seit zwei Jahren.
Kurz denke ich, ich fange gleich an zu weinen, doch ich reiße mich zusammen und wiederhole meinen Namen, diesmal etwas lauter aber noch immer mit nach unten gesenktem Blick.
„Hast du einen Sprachfehler oder warum wirst du am Ende immer leiser?“, sagt er mit einem hämischen Grinsen auf dem Gesicht.
Ich komme mir lächerlich vor wie ich auf dem Stuhl kauere und vor mich hin stottere, erbärmlich. Einfach erbärmlich. Ich spüre die bohrenden Blicke der anderen. Es ist als wären Scheinwerfer auf mich gerichtet. Ich atme tief durch. Weiß nicht was ich tun soll. Mich nochmal vorstellen und wieder versagen oder einfach den Mund halten und mich in Grund und Boden schämen?
„Bitte sag deinen Namen noch einmal, diesmal so, dass ihn auch jemand versteht.“
„Ich bin Justina“, sage ich zum dritten Mal und hoffe innerlich, dass es ihm diesmal genügt.
„Ach, Justina heißt du also.“ Sein Mund ist zu einem breiten Lächeln verzerrt. Damit gibt er das Wort an den Nächsten.
Mir ist kalt, eiskalt und ich fange an zu zittern. Vor Angst, vor Anspannung, vor Scham, ich weiß es nicht. Ich schlinge die Arme um mich und wünsche mir im Erdboden zu versinken. Ich schaue auf die Uhr, zähle die Sekunden, welche so qualvoll langsam vergehen.
Als die Vorstellungen beendet sind, ergreift er wieder das Wort. „Nun möchte ich auf eure Körperhaltung zu sprechen kommen.“ Er wirft einen prüfenden Blick in die Runde. Bleibt an mir hängen. Mustert mich lange.
Mir stockt der Atem. Ich beiße mir auf die Unterlippe bis ich Blut schmecke, umklammere meinen Körper fester und wünsche mir sehnlichst dass er seinen Blick von mir abwendet. Ich weiß doch selbst, dass ich hässlich bin und alles falsch mache.
„Diese Haltung ist echt zum Kotzen“, erklärt er und ich spüre wie alle zu mir gucken. „Ist dir kalt oder warum umklammerst du dich als würdest du gleich auseinanderfallen?“
Ja, mir ist kalt. Ich habe seit über einem Tag nichts gegessen, bin einfach unterzuckert und sterbe gleich vor Angst, denke ich. Aber alles, was ich mache, ist zu nicken.
Er seufzt. „Du hörst jetzt auf dein Arme zu verschränken.“ Er führt es mir vor als wäre ich sonst zu dumm um ihn zu verstehen. „Und dann stellst du deine Beine parallel zueinander auf den Boden.“ Auch das zeigt er mir.
Ich höre wie jemand kurz auflacht. Ich komme mir vorgeführt vor, gehorche aber und hoffe, dass er möglichst bald von mir ablässt.
„Ist doch schon viel besser.“ Er nickt mir zu. „Aber nichtsdestotrotz signalisierst du mir, dass du keinen Bock auf das Ganze hier hast.“
Ich bin viel zu durcheinander und weiß nicht, was er meint. Denn alles an mir ist falsch. Deshalb warte ich einfach ab.
„Schon mal etwas von Blickkontakt gehört?“, will er wissen und kann den Vorwurf in seiner Stimme nicht verbergen. Nicht dass er es versucht hätte.
Vorsichtig hebe ich meinen Kopf. Braune Haare, ein hartes Gesicht, dunkle Augen, in denen eher Hass als Mitleid lodert. Ich bekomme augenblicklich Gänsehaut. Will weg. Ganz weit weg.

Mein Herz pocht heftig gegen meine Rippen als er sagt: „Geht doch. Und jetzt teile ich euch Gedichte zu, die ihr in der Gruppe vortragt.“

An das nächste habe ich keine Erinnerung. Es ist wie ausgelöscht. Als wäre da nie etwas gewesen. Das nächste ist dass unsere Gruppe aufgerufen wird.

Ich stehe auf, gehe nach vorne, stelle mich an den Rand. Die anderen sitzen im Halbkreis vor uns und schauen uns erwartungsvoll an. Ich habe den Impuls zu fliehen, einfach wegzurennen, doch kann mich keinen Millimeter bewegen. Das Gefühl in der Situation gefangen zu sein war alles andere als angenehm. Meine vor Angst geweiteten Pupillen wandern von Gesicht zu Gesicht und treiben mich immer tiefer in die Panik. Ich kann kaum noch atmen, meine Knie sind weich wie Butter, alles dreht sich um mich herum. Wie durch Watte höre ich Worte. Worte, die einfach an mir vorbeiströmen; keinen Sinn ergeben.
Ich stehe also da, schwanke leicht und kämpfe gegen die nahende Ohnmacht an als mich meine Freundin anstupst.
Mit allerletzter Kraft lese ich meine Zeilen. Als ich fertig bin und benommen von meinem Text aufblicke, sehe ich meinen Lehrer auf mich zukommen.
„Alle bis auf Justina können sich setzen.“
Einige Sekunden lang verstehe ich nichts, dann dämmern mir seine Worte. Verzweiflung breitet sich in mir aus; lässt das Blut schneller durch meinen Körper strömen.
„Du trägst das jetzt noch einmal vor“, weist er mich an und stellt sich neben mich. „Und stell dich ordentlich hin.“ Er schubst mich. Ich stolpere und falle fast um. „Genau das hab ich gemeint. Stell dich so hin, dass du nicht umfallen kannst.“
Hilfesuchend blicke ich in die Gesichter meiner Mitschüler, doch es scheint niemanden zu interessieren.
„Nochmal“, wiederholt er.
Ich schnappe kurz nach Luft, rattere meinen Text herunter und verstumme schließlich.
„Vollkommen emotionslos. Du sollst das nicht ablesen, du sollst es vortragen. “
Tränen bahnen sich ihren Weg  über meine Wangen. Ich drehe mich um, schleppe mich aus dem Raum und höre die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
Nervlich am Ende lasse ich mich an der Wand hinuntergleiten und beginne bitterlich zu weinen.
Das Öffnen der Tür lässt mich hochschrecken. Mit einem bestürzten Ausdruck auf dem Gesicht sah mich meine Freundin an. „War das so schlimm für dich?“
Ich schluchze laut auf und nicke. Immer und immer wieder höre ich seine Worte in meinen Ohren nachklingen.
Sie schließt mich in die Arme bis ich aufhöre zu weinen. „Siehst du, jetzt ist alles wieder gut.“ Als sie mich loslässt kauere ich mich auf dem Boden zusammen und beobachte wie sie wieder in die Klasse geht.
Alles wird gut ist die größte Lüge auf diesem beschissenen Planeten.
Ich bin nur noch ein Häufchen Elend mit dem innigen Wunsch zu sterben.