Der Gang war menschenleer und es herrschte eine unheimliche Stille. Totenstille. Ich ging langsam und musste aufpassen, dass ich nicht über meine eigenen Füße stolperte. Meine Schritte hallten durch das Gebäude und steuerten zielsicher auf die Toiletten zu. Der Selbsthass, welcher in mir loderte, ballte sich zu einer gewaltigen Explosion. Ich schaute auf die Uhr. Die Vorlesung war eigentlich erst in zwanzig Minuten vorbei.
Ich wählte die vorletzte Kabine und schloss mich ein. Meinen Mantel legte ich auf den Boden während ich in meiner Tasche wühlte. Ich zog die Schere aus meiner Federtasche. Überwältigt von ihrer Anziehungskraft ließ ich mich auf den geschlossenen Toilettendeckel sinken.
Ich schnitt mit dem kalten Metall in meinen Arm. Schmerz kam; verschaffte mir Erleichterung. Ließ mich alles um mich herum vergessen. Die bekritzelte Tür der Toilette, der muffige Geruch und die Stille; alles verschwand aus meinen Sinnen. Rote Tränen traten aus dem Schnitt und flossen meinen Arm hinab. Ich riss ein Stück Toilettenpapier ab und drückte es drauf um sie aufzufangen. Währenddessen las ich mir die Schmierereien an den Toilettenwänden durch. Es reichte von „Schatz, ich liebe dich“ bis hin zu „Wozu bin ich eigentlich noch da?“. Die ganze Bandbreite der Emotionen eben. Verewigt auf dem weiß angestrichenen Holz.
„Sophie, sind Sie hier?“ Meine Professorin. Wie lange saß ich schon hier? Schritte kamen näher. Hielten vor meiner Toilettenkabine an. „Ist alles in Ordnung?“
Ich presste das Papier stärker auf den Schnitt. „Es geht.“
„Was ist denn los?“
„Nichts.“ Nichts, das sie etwas angehen würde.
Sie wartete einen Augenblick. Wahrscheinlich darauf, dass ich aus der Kabine raus kam. Doch das war nicht der Fall. Nach einer Weile schien Frau Ebert das zu realisieren.
„Warten Sie bitte einen Moment hier. Ich komme gleich wieder.“
Ihre Schritte entfernten sich und wurden immer leiser. Ich steckte die blutverschmierte Schere in die Tasche meines Mantels. Als es mucksmäuschenstill auf den Toiletten war, stand ich auf. Ich nahm meine Tasche und hing sie mir über die Schulter, meinen Mantel nahm ich in die linke Hand. Während ich mit der freien Hand weiter auf den Schnitt drückte schloss ich die Tür auf. Eilig schlich ich nach vorne zu den Waschbecken um das Blut abzuwaschen. Als ich jemanden hereinkommen hörte, wollte ich gerade meinen Ärmel hinunterziehen. Doch meine Professorin war schneller.
„Haben Sie sich geritzt?“
Nein, ich bin Maskenbildnerin und habe ein wenig geübt.
Sie kam näher zu mir und kniff ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Möchten Sie ein wenig an die frische Luft?“
Ich schüttelte den Kopf. Alles, was ich wollte, war abzuhauen und diesen Moment aus dem Gedächtnis meiner Professorin zu löschen.
„Kommen Sie mal mit.“ Sie nahm meinen Mantel und führte mich von den Toiletten in einen kleinen Raum. Mein Herz pochte als würde ich Achterbahn fahren.